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FAQ

Sektionsredner

Professor Dr. Martin Vialon (Istanbul, TK)
Giambattista Vicos „Neue Wissenschaft“ als Lebenswissenschaft?

Abstract

Giambattista Vicos „Neue Wissenschaft“ als Lebenswissenschaft?

Martin Vialon

Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin/Yeditepe University, Istanbul

Wohl kein anderes Werk als die „Neue Wissenschaft“ (1744) des neapo-litanischen Philosophen Giambattista Vico (1668-1744), die von Erich Auerbach 1924 ins Deutsche teilübersetzt wurde, hat so maßgeblich Ein-fluss genommen auf die Kontroversen, die sich an den beiden Begriffen „Lebenswelt und Wissenschaft“ in unserem Zeitalter entzündeten. So-wohl im Bereich der Literatur-, Politik-, Geschichts- und Sozialwissen-schaft wie auch der Philosophie und Theologie sind Vicos Ideen vom Auseinanderdriften von Leben und Wissenschaft durch Forscher wie So-rel, Lukács, Auerbach, Horkheimer, Benjamin, Adorno, Hannah Arendt, Löwith, Bultmann, Jaspers, Habermas oder Kracauer erkannt worden. Aber keiner der Genannten hat die anthropologische Frage gestellt, was das tatsächlich Neuartige von Vicos Denken und seiner Konzeption von Lebenswelt und Wissenschaft für die Geisteswissenschaften bedeutet.

Der Vortrag will diesem Desiderat nachgehen und zunächst das Wech-selverhältnis von Philologie und Philosophie erörtern, das bei Vico auf einer historischen und sprachwissenschaftlichen Perspektive beruht. So-dann soll der Beitrag „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Ei-ne Programmschrift im Jahr der Geisteswissenschaften“, den Ottmar Ette im vergangenen Jahr in der Zeitschrift „lendemains“ veröffentlichte, ei-ner kritischen Diskussion ausgesetzt werden. Ette geht von Nietzsche Historienschrift aus, fordert die Zusammenführung von Geistes- und Na-turwissenschaften, die in dem nicht näher bestimmten Begriff des Bios ihre Legitimation findet. Er postuliert den „experimentellen Charakter von Literatur“ die eine „lebenswissenschaftlich orientierte Literaturwis-senschaft“ benötige, da sie selbst ein „interaktives Speichermedium von Lebenswissen“ darstelle. Diesen Postulaten kann man bedingt zustim-men, aber Ettes Argumentation lässt keine systematische Ausrichtung er-kennen: Einerseits wird nämlich der Begriff der Erfahrung ausgeblendet und andererseits der Begriff des Bios nicht mit dem des Logos verbun-den.

Alle drei Begriffe spielen dagegen bei Vicos Konstruktion menschlicher Geschichte und ihren mythischen Anfängen eine wesentliche Rolle. Kühn ließe sich sagen, dass Vicos Philosophie zumindest teils auf Hera-klitschen Füßen steht, insofern Bios und Logos eine Wechselwirkung eingehen, die in der Modifikation und ständigen Veränderung menschli-chen Denkens und Handelns zum Ausdruck gelangen. Neben diesem As-pekt besteht das völlig neue Denken Vicos allerdings darin, dass barbari-sche Zustände jederzeit wieder möglich sind. Die Sammlung von Erfah-rungswissen und dessen kritische Überprüfung beziehen sich auf alle Be-reiche des menschlichen Lebens und der von Menschen hergestellten Le-benswelt. Das Axiom „verum et factum convertuntur“ drückt das Zu-sammenspiel von Handeln und Reflexion aus und zielt ebenso auf das Erkennen des Irrtums, wodurch eine neue Prüfung des ‚Gemachten’ (zweite Natur) ermöglicht wird.

Bezogen auf die Jetztzeit ist daher Vico erneut zu befragen, wie über-haupt noch Erfahrung gewonnen werden kann, wenn die Grundlage von Geschichtserfahrung einem Verdinglichungsprozess preisgegeben wird, der sich in Form einer Übertechnisierung der Umwelt und des alltäglich-tätigen Lebens vollzieht. Der Begriff der Geschichtserfahrung, der mit Vico zu aktualisieren ist, bezieht sich also auf die Konstituierung eines aufgeklärten Subjekts, das sich der Tendenz seiner tierischen Abkunft bewusst zu werden vermag. Kurzum: Eine neue Lebenswissenschaft als Philosophie hat sowohl den Autonomie- und Anerkennungscharakter des Denkens, der Kunst und Literatur als Formen menschlich hergestellter Gewissheiten zu berücksichtigen wie auch dafür Sorge zu tragen, dass diese Entäußerungsformen relativistischer Natur sind und keine absolute Wahrheit beanspruchen können. Hierin spiegeln sich sowohl Über-schneidungen wie auch Unterschiede zum Marxistischen Denken wider.

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