Sektionsredner
Dr. Rochus Sowa (Leuven, B)
Husserls Idee einer nicht-empirischen Wissenschaft von der Lebenswelt
Abstract
Wenn heutzutage der Ausdruck „die Lebenswelt“ gebraucht wird, so denkt man dabei zunächst und zumeist an „unsere“ Lebenswelt, an die eine allumfassende Lebenswelt der gegenwärtigen Menschheit; wird dagegen „Lebenswelt“ als genereller Terminus gebraucht („eine Lebenswelt“) und ist von Lebenswelten im Plural die Rede, so denkt man an irgendwelche zeitlich oder örtlich oder sozial beschränkten menschlichen Lebenswelten, z.B. an die versunkene Lebenswelt des Nürnberger Bürgertums um 1500 oder an die Lebenswelt der heutigen australischen Ureinwohner. In beiden Verwendungen des Ausdrucks „Lebenswelt“ liegt eine implizite und in aller Regel unbemerkte Beschränkung des Lebensweltbegriffs, die der Konzeption von Lebenswelt, wie sie bei Husserl, dem Urheber der modernen Rede von der Lebenswelt, vorliegt, nicht gerecht wird.
Husserls Konzeption von Lebenswelt und seine Idee einer Wissenschaft von der Lebenswelt zielt nämlich nicht primär auf diese unsere aktuelle menschheitliche Lebenswelt und auch nicht auf einen allgemeinen Begriff von menschlicher Lebenswelt überhaupt; Husserl ist es vielmehr daran gelegen, einen „unbedingt allgemeinen“, nicht auf die Spezies „Mensch“ eingeschränkten Begriff von Lebenswelt zu erarbeiten und in allgemeinen „wesensgesetzlichen“ Aussagen zu explizieren. Diese aus Begriffen (ex terminis) einsehbaren Aussagen sollen festlegen, was für jede erdenkliche Lebenswelt gilt und was daher notwendig auch für diese unsere Lebenswelt und für alle faktischen menschlichen Lebenswelten gilt, die nur Einzelfälle des allgemeinen Begriffs von Lebenswelt überhaupt sind. Husserls Wissenschaft von der Lebenswelt ist somit – wie seine transzendentale Phänomenologie überhaupt – als eine apriorische oder nicht-empirische Wissenschaft konzipiert, und zwar als eine material-apriorische Wissenschaft neuen Typs, die Husserl als deskriptive Eidetik bezeichnet hat. Als deskriptive Eidetik zielt Husserls Wissenschaft von der Lebenswelt auf deskriptive Wesensgesetze, das sind allgemeine Aussagen, die nur aus reinen, d.h. von expliziten und impliziten Daseinssetzungen freien Begriffen aufgebaut sind und auf die Form gebracht werden kann: „Für jede erdenkliche Lebenswelt gilt das und das“. Das Eigentümliche der deskriptiven Wesensgesetze und damit auch der wesensgesetzlichen Aussagen über „die Lebenswelt“ besteht darin, dass sie im Unterschied zu empirischen Aussagen über eine bestimmte faktische Lebenswelt, die nur an Hand von gesicherten Fakten überprüft und eventuell falsifiziert werden können, auch durch bloß erdachte, in freier Phantasie konstruierte mögliche Sachverhalte intersubjektiv überprüft und gegebenenfalls falsifiziert werden können.
Von den Strukturen „der“ Lebenswelt, die Husserl genauen, in eidetisch-deskriptiven Aussagen terminierenden Analysen unterzogen hat, sollen in diesem Vortrag zwei exemplarisch angeführt werden, um Husserls Idee einer nicht-empirischen Wissenschaft von der Lebenswelt Inhalt und Kontur zu verleihen: die Horizontstruktur der Lebenswelt und ihre Orientierungsstruktur. Anhand dieser Beispiele sollen zwei wesentliche Bestandstücke des Husserl’schen Lebensweltbegriffs aufgewiesen werden, der als ein im obigen Sinne reiner Begriff der Grund- und Leitbegriff dieser nicht-empirischen deskriptiven Wissenschaft ist und in ihren wesensgesetzlichen Aussagen eine immer reichere Bestimmung erhält.