Sektionsredner
Dr. Ulrich Seeberg (Berlin) - Curriculum Vitae
Lebenswelt, Wissenschaft und Kunst
Abstract
Die Begriffe Lebenswelt und Wissenschaft markieren im Kontext der Phänomenologie des späten Husserl eine Opposition: die Methodik der objektbezogenen Erfahrungswissenschaften wird zwar den Gegenstandsbereichen der Natur gerecht, nicht aber der Lebenswelt des Menschen im Ganzen. Da die neuzeitlichen Erfahrungswissenschaften vor allem in Gestalt der mathematischen Naturwissenschaften in der Verselbständigung ihrer Methodik auf ein Ganzes der Wirklichkeit zielen, zugleich aber als Teil jenes nicht verobjektivierbaren Ganzen der Lebenswelt zu verstehen sind, in der wir uns immer schon wissen, ergibt sich die doppelte Aufgabe, ihren Geltungsanspruch aus der Lebenswelt selbst heraus sowohl zu begründen wie auch zu begrenzen. Diese Aufgabe soll die transzendentale Phänomenologie leisten, indem sie die objektiven Geltungsansprüche der Wissenschaften genetisch auf den Zusammenhang einer reinen, vortheoretischen Erfahrung zurückführt, in der uns die Dinge im lebensweltlichen Kontext je als sie selbst, d.h. in je sachlich und zugleich in geschichtlich bestimmter Gegebenheitsweise erscheinen. Läßt sich daher zeigen, daß der Anspruch der mathematischen Naturwissenschaften, ein ungeschichtliches Ganzes der Wirklichkeit erforschen zu können, diesen geschichtlich entfalteten lebensweltlichen Kontext als seine eigene Möglichkeitsbedingung bloß ignoriert, ergibt sich hieraus der Ansatzpunkt zu einer Kritik dieses Anspruchs. Die besondere Schwierigkeit dieser Kritik an einer Verwissenschaftlichung der Lebenswelt besteht nun darin, daß sie diese nicht bloß als eine fehlgehende Theorie über das Leben behandeln darf, sondern als ein negatives geschichtliches Phänomen der Lebenswelt selbst begreifen muß. Lebenswelt und Wissenschaft werden nicht gegeneinander ausgespielt, sondern vielmehr aufeinander bezogen. Wie aber läßt sich begreifen, daß eine dem Leben gegenüber blinde und also kritisch zu beurteilende Verwissenschaftlichung der Lebenswelt zur Lebenswelt selbst gehört, aus der heraus sie kritisiert wird?
In diesem Zusammenhang verdient nun die Kunst eine besondere Aufmerksamkeit. Die Zeitlichkeit und Leibhaftigkeit gerade der ästhetischen Erfahrung bilden ohnehin ein Paradigma der phänomenologischen Analysen. Die Analyse der Wahrnehmung, die Merleau-Ponty ausgearbeitet hat, verdeutlicht nicht nur allgemein im Kontrast zur geometrischen Konstruktion des Raumes das leibhafte Einbezogensein des wahrnehmenden Subjekts in die sich zeigende Wirklichkeit, sondern auch die besondere Bedeutung, welche der Beweglichkeit des Sehens in der Malerei zukommt. Husserls Analysen des Zeitbewußtseins sind u.a. von Paul Ricoeur auf die Literatur und die Frage nach der Konstituierung des Zeitkunstwerks bezogen worden; analog lassen sich Ansermets phänomenologische Studien der „Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein“ über Sartre auf Husserl zurückbeziehen. Die in diesen Analysen herausgestellte Erfahrung des In-der-Welt-Seins, der ein Sich-Zeigen des Wahrgenommenen korrespondiert, entspricht Husserls Charakterisierung der Lebenswelt – insbesondere auch darin, daß die intersubjektiv verbindliche ästhetische Erfahrung eines „so ist es“ geschichtlich-situationsgebunden zu verstehen ist, so u.a. die Hermeneutik Gadamers. Diese Momente erlauben es, zumindest im Ansatz eine Eigentümlichkeit vor allem der modernen Kunst zu thematisieren, die wiederum in direktem Bezug zum Problem der Negativität einer die Horizontgebundenheit der Lebenswelt ignorierenden Verwissenschaftlichung der Lebenswelt steht.
Die Kunst der Moderne, die sich seit dem Beginn des 19. Jh. ausbildet, läßt sich in vielen Zügen als Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen verstehen, die nicht primär als Abbau von hemmenden Schranken und damit als Freisetzung künstlerischer Kreativität empfunden wurden, sondern als Verlust von Thema und Aufgabe einer gesellschaftlich repräsentativen Kunst. Die künstlerische Darstellung der modernen Lebenswirklichkeit, sofern sie durch Anonymität und fehlende gesellschaftliche Verbindlichkeit bestimmt ist, artikuliert daher eine Sprachlosigkeit, eine présence d’une absence, wie G. Bataille mit Blick auf das Werk von Manet gesagt hat. Analoges läßt sich bereits bei Goya beobachten, der die Greuel des Krieges zeigt, ohne sie in ihrer Negativität zu relativieren. Diese Liste ließe sich ergänzen, etwa durch den Maler Francis Bacon oder die Schriftsteller T.S. Eliot und Samuel Beckett, um nur wenige zu nenne. Im Beitrag soll daher diskutiert werden, inwiefern sich mit Husserl die angedeutete Eigentümlichkeit der modernen Kunst aus der Geschichtlichkeit der ästhetischen Erfahrung verständlich machen läßt, jeweils als Teil eines Zusammenhangs zu bestehen, der den einzelnen Moment und den ihm entsprechenden Ausdruck definiert und zugleich als Welthorizont übersteigt, und inwiefern sich von dieser phänomenologischen Analyse der modernen Kunst her auch das genannte Problem des Verhältnisses von Lebenswelt und Wissenschaft besser verstehen läßt.
Curriculum Vitae von Dr. Ulrich Seeberg
- Bis 2001: Philosophie, Germanistik (LMU München, Oxford University, Humboldt Universität Berlin). Abschluss: Dr. phil.
- 2001: Ursprung, Umfang und Grenzen der Erkenntnis. Eine Untersuchung zu Kants transzendentaler Deduktion der Kategorien (Humboldt Universität Berlin)
- Universität der Künste Berlin
- Klassische deutsche Philosophie
- Ästhetik
- Phänomenologie
- 2001 - 2008: Wiss. Mitarbeiter
- Ursprung, Umfang und Grenzen der Erkenntnis. Hamburg 2005