Sektionsredner
Dr. Barbara Schmitz (Basel, CH) - Curriculum Vitae
Gesundheit als Bedürfnis – Was heisst das für eine gerechte Rationierung der Ressourcen?
Abstract
Gesundheit ist ein Bedürfnis, d.h. es handelt sich bei ihr um keinen subjektiver Wunsch oder eine Präferenz, die wir kontingenterweise haben können, sondern Gesundheit ist eine objektive Notwendigkeit für alle Menschen. Für Fragen der Rationierung knapper Ressourcen im Gesundheitswesen scheint diese Einsicht zunächst jedoch nur wenig weiterzuhelfen, da das Verteilungsprinzip „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ genau dann zu versagen scheint, wenn nicht alle Bedürfnisse erfüllt werden können. In Zeiten der Knappheit scheint das Prinzip entweder zu fordern, alle Ressourcen in die Gesundheitsversorgung zu stecken, oder es bleibt still, wie z.B. Ronald Dworkin bemerkt hat. In meinem Vortrag möchte ich zeigen, dass diese Auffassung nicht zutreffend ist, sondern dass sich aus dem Umstand, dass Gesundheit ein Bedürfnis ist, Prioritätsprinzipien ableiten lassen, die uns helfen können, Entscheidungen über eine gerechte Rationierung im Gesundheitswesen zu treffen.
Mein Vortrag gliedert sich in drei Teile: Zunächst möchte ich näher erläutern, was überhaupt unter einem „Bedürfnis“ verstanden werden kann und wie sich Bedürfnisse von Wünschen, Präferenzen und Interessen unterscheiden. Ich werde zu diesem Zweck verschiedene in der Literatur gängige Definitionen von für Gerechtigkeit relevanten Bedürfnissen prüfen und zeigen, dass moralisch relevante Bedürfnisse als solche der menschlichen Lebensform verstanden werden können. Gesundheit ist somit ein objektiv notwendiges Erfordernis für alle Menschen.
Im zweiten Teil des Vortrags werde ich auf die Anwendung des Prinzips „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ in Zeiten der Knappheit von Ressourcen eingehen und aufzeigen, dass sich aus diesem Verteilungsprinzip zwei unterschiedliche Bedürfnis-Priroritätsprinzipien ableiten lassen. Ein absolutes Bedürfnis-Prioritätsprinzip, welches gemeinhin als „principle to the worst off“ bezeichnet wird, geht von einer absoluten Priorität des Schlechtestgestellten aus und räumt diesem einen Vorrang für die Ressourcen ein. Ein proportionales Bedürfnis-Prioritätsprinzip hingegen geht davon aus, dass jeder proportional zu seiner Bedürftigkeit einen Anteil der zu verteilenden Güter bekommen soll. Diese beiden Prinzipien folgen deswegen aus „Jedem nach seinen Bedürfnissen“, weil hier gilt, dass der Grund jemanden zu helfen desto grösser ist je weiter diese Person von der Befriedigung ihrer Bedürfnisse entfernt ist.
Bedürfnis-Prioritätsprinzipien müssen abgegrenzt werden von Prioritätsprinzipien, die sich auf den Nutzenzuwachs beziehen und eine utilitaristische Grundlage haben. Diese auf einer unterschiedlichen Grundlage beruhenden Prinzipien, bei denen es um eine Verminderung von Bedürftigkeit insgesamt geht und die aggregativ und maximierend arbeiten, werden oft mit Bedürfnisprinzipien verwechselt. Auch bei Nutzenprinzipien kann zwischen einen absoluten Nutzen-Prioritätsprinzip und einem proportionalen Nutzen-Prioritätsprinzip unterschieden werden. Ersterem zufolge wird der absolute Nutzenzuwachs als Kriterium genommen, letzterem zufolge der Nutzenzuwachs, der relativ zu der anfänglichen Bedürftigkeit besteht. Das proportionale Nutzen-Prioritätsprinzip berücksichtigt somit zwar die Bedürftigkeit als einen Faktor der Gewichtung, kann aber dennoch von Bedürfnis-Prioritätsprinzipien klar unterschieden werden.
Im dritten Teil meines Vortrags möchte ich diese unterschiedlichen Arten von Prioritätsprinzipien auf Fragen der gerechten Gesundheitsversorgung anwenden. Ich möchte zu diesem Zweck zum einen aufzeigen, inwiefern in der Literatur zur Gesundheitsversorgung Nutzenprinzipien häufig mit Bedürfnisprinzipien verwechselt werden. So werde ich z.B. fragen, inwiefern Triage ein Nutzen- oder ein Bedürfnisprinzip ist und ob der Vorschlag von Roger Crisp, den er als „need principle“ bezeichnet, wirklich als ein solches gelten kann. Zum anderen möchte ich aber auch konkrete Fälle als Beispiele für die Anwendung der verschiedenen Prinzipien aufzeigen: So können z.B. bestimmte Arten der Rationierung durch Wartezeiten als Ausdruck des Prinzips „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ verstanden werden. Damit soll deutlich werden, dass die Differenzierung dieser verschiedenen Prioritätsprinzipien uns zweierlei helfen kann: zum einen gewinnen wir so Klarheit über die theoretische Basis eines Prinzips und verstehen, welches Prinzip sich an „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ orientiert und welches nicht. Zum anderen wird ausgeführt, wie uns diese Prinzipien bei konkreten Fragen helfen können. Aus der Auffassung, dass Gesundheit ein Bedürfnis ist, lassen sich somit einige spannende Ergebnisse gewinnen - gerade auch in Zeiten der Knappheit, in der eine Rationierung der Ressourcen notwendig ist.
Curriculum Vitae von Dr. Barbara Schmitz
- Bis 2000: Philosophie, Neure deutsche Literatur, Sprachwissenschaft (Tübingen, Freiburg i.B., Tromsoe). Abschluss: Doktor
- 2000: Wittgenstein über Sprache und Empfindung (Freiburg i.Br.)
- Bedürfnisse und Gerechtigkeit (Basel)
- Universität Basel
- Politische Philosophie
- Ethik
- Sprachphilosophie
- 2001 - jetzt: Assitentein
- Wittgenstein über Sprache und Empfindung, menti,s 2001
- Grammatical Propositions, Grazer Philosophische Studien, 2006
- Bedürfnisse und globale Gerechtigkeit, in: Schaber/Bleisch: Weltarmut und Ethik, mentis, 2007