Sektionsredner
Johannes Röhl, M.A. (Giessen) - Curriculum Vitae
Essenzen und Experimente
Abstract
Aristotelische Naturen oder Essenzen sind eines der Elemente der Metaphysik, das seit der neuzeitlichen experimentellen Naturwissenschaft und der empiristisch orientierten Philosophie als überwunden galt. Erst in den letzten Jahren werden essentialistische Positionen von einigen analytischen Metaphysikern nicht nur bei Fragestellungen nach Individuation und Identität, sondern auch in der eng an den empirischen Wissenschaften orientierten Naturphilosophie wieder vertreten. Ich werde zunächst diese essentialistische Metaphysik der Natur anhand eines prominenten Vertreters, Brian Ellis, vorstellen und auf die wichtigsten Argumente für diese Position eingehen. Obwohl ich seinen Zugang für weitgehend plausibel halte, werde ich eine alternative Argumentationslinie entwickeln, die eine essentialistische Haltung in Physik und Chemie anhand der explanativen und experimentellen Methode dieser Wissenschaften nachvollziehbar machen soll.
Im Anschluß an von Bhaskar und Cartwright vorgebrachte Ansätze soll gezeigt werden, daß eine realistische Einstellung gegenüber unserer experimentellen Vorgehensweise eine Art „methodischen Essentialismus“ nahelegt. Ein weiteres Argument läßt sich aus einer wissenschaftshistorischen Überlegung gewinnen.
Ellis’ „wissenschaftlicher Essentialismus“ stützt sich auf konkrete Ergebnisse der modernen Physik und Chemie, ist also a posteriori begründet. Zentral ist dabei die Tatsache, dass es nach dem aktuellen Stand dieser Wissenschaften diskrete Klassen (ultima genera, natürliche Arten) von Basisentitäten gibt, die jeweils durch einige wenige Eigenschaften in ihrem Wesen charakterisiert werden können. Hieraus wird deutlich, daß die diskutierten essentialistischen Positionen keineswegs als Ausdruck wuchernder metaphysischer Spekulation verstanden werden dürfen, sondern sich als Antwort auf die Frage ergeben, welche Metaphysik man vertreten sollte, wenn unsere bestgestützten Einzelwissenschaften richtig sind, mithin zentrale Merkmale des modernen wissenschaftlichen Weltbildes aus essentialistischer Perspektive am besten verstanden werden können. Vorausgesetzt wird dabei durchgehend ein wissenschaftlichen Realismus bezüglich der Ergebnisse der Einzelwissenschaft und insbesondere unbeobachtbarer („theoretischer“) Objekte.
Weitgehend unabhängig von konkreten einzelwissenschaftlichen Ergebnissen verläuft dagegen folgende Argumentationslinie. Sie setzt nur eine wissenschaftlich-realistische Haltung (und damit eine Anerkennung des fundamentalen Unterschieds zwischen Seinsordnung und Erkenntnisordnung) und die tatsächliche methodische und experimentelle Praxis der physikalischen Wissenschaften voraus: Wissenschaftstypische Allgemeinaussagen, formuliert als Modelle, Naturgesetzaussagen oder mathematisch-funktionale Zusammenhänge, implizieren kontrafaktische Aussagen über Wertverläufe, die kontingenterweise nicht experimentell realisiert werden. Ihre Kraft und ihr Nutzen besteht nicht zuletzt darin. Solch ein „modaler Realismus“ wird in der wissenschaftlichen Arbeit häufig stillschweigend vorausgesetzt. Diese Voraussetzung machen Bhaskars und Cartwrights Analysen experimenteller Vorgehensweisen explizit. Naturgesetze i. S. v. universellen Regularitäten sind nach der hier verteidigten Sicht nichts fundamentales sondern gründen in den kausalen Potenzen der Naturdingen, die ähnlich wie aristotelische Wesensnaturen aufgefaßt werden müssen. Diese essentiellen, kausalen Dispositionen sind stabil über ganz unterschiedliche experimentelle und natürliche Situationen hinweg, in denen sie sich mehr oder weniger deutlich manifestieren können. Experimente zielen darauf, durch Isolation von unerwünschten kausalen Einflüssen, diese wesentlichen Strukturen herauszupräparieren.
Schließlich gibt es das Problem der Referenzstabilität theoretischer Ausdrücke über Theorienwandel hinweg. Oftmals bleibt schwer verständlich, wie sich unterschiedliche Theorien auf dieselben Gegenstände beziehen können. Im Selbstverständnis der Wissenschaft bringt der Wandel der Begriffe jedoch keine Veränderung des Untersuchungsgegenstandes mit sich, sondern reflektiert neue Erkenntnisse über deren Wesen. Diese Zugangsweise scheint auf einer tiefen Ebene der explanativen Systematik und experimentellen Praxis der physikalischen Wissenschaften verankert. Ich werde versuchen zu zeigen, wie die Lockesche Unterscheidung zwischen „nominalen“ und „realen Essenzen“ ein Verständnis sowohl der Referenzstabilität als auch der Erhaltung eines begrifflichen Kerns über den Theorienwandel hinweg ermöglicht.
Es ergibt sich demnach, dass drei Typen von Stabilität, die „praktische Stabilität“ gegenüber unterschiedlichen experimentellen Situationen , die „modale Stabilität“, die kontrafaktische Konditionalaussagen stützt und die historische Stabilität der Referenz theoretischer Termini vor dem Hintergrund eines Essentialismus sehr gut verstanden werden können, während sie unter schwächeren Voraussetzungen rätselhaft bleiben müssen.
Curriculum Vitae von Johannes Röhl, M.A.
- Bis 2003: Philosophie, Physik, Mathematik (JLU Gießen, Univ. of Washington, Seattle). Abschluss: M.A.
- Giessen
- Dispositionen, Naturgesetze, Kausalität
- Interpretationsprobleme der Quantentheorie
- Wissenschaftlicher Realismus
- 2003 - 2008: Wissenschaftlicher Mitarbeiter, JLU Gießen
- „Zur Wirklichkeit virtueller Prozesse in der Teilchenphysik“ in Abel, G. (hrsg.): Kreativität – XX. Deutscher Kongress für Philosophie, Sektionsbeiträge