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Professor Dr. Dr. h.c. C.F. Gethmann

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FAQ

Sektionsredner

Dr. Chiara Piazzesi (Berlin) - Curriculum Vitae
„Liebe macht blind“: Eigengesetzlichkeit der passionierten Liebe als Orientierung in der Erfahrung.

Abstract

Im Gegensatz zu vielen Fragen, mit denen die Philosophen sich beschäftigen, und die fast nichts mit dem alltäglichen Leben zu tun haben, ist die philosophische Frage nach der Liebe eine, die wahrscheinlich die meisten Menschen sich gestellt haben – obwohl nicht unbedingt aus wissenschaftlichen Gründen.

Mit dieser Frage möchte ich mich auseinandersetzen.

Das alltägliche Verständnis verfügt über eine Vorstellung der passionierten Liebe, die sie als etwas eigengesetzliches und unvernünftiges charakterisiert, das das Leben durcheinander bringt, dem man nicht widerstehen kann. Wenn es sich um etwas handelt, das beherrschbar und steuerbar ist, handelt es sich, unserer (‚romantischen’) Vorstellung nach, nicht um Liebe. Wir wissen, was die Liebe sein soll, auch wenn wir nicht wissen, was die Liebe ist.

So hat oft auch die philosophische Tradition die Liebe betrachtet: als eine menschliche wesentliche Gegebenheit (Trieb, Gefühl, Affekt), deren Lauf von ihren ontologischen Eigenschaften bestimmt und bedingt wird. Alles, was wir über Liebe wissen oder erfahren können, weist auf die Liebe zurück: sie ist von einer unbestrittenen Eigengesetzlichkeit gekennzeichnet.

Deswegen steht die passionierte Liebe anscheinend vor dem Sozialen, oder jenseits davon: sie stellt sich sowohl der Gerechtigkeit als auch der Moral und der Ethik entgegen, indem sie aus eigenen Gründen und Gesetzen entsteht. Sie löst die Kriterien der Vernünftigkeit auf: Liebe macht blind.

Die phänomenologische Analyse von M. Scheler (Wesen und Formen der Sympathie, 1922) hat Liebe als intentionale, wertorientierte Bewegung beschrieben: Liebe sei keine angeborene, bloß natürliche und reaktive Fähigkeit des Menschen, sondern die Intention auf den «höheren Wert», der von der Liebe selbst bestimmt wird und deshalb für die Vernunft unzugänglich ist. Nun erscheint die Liebe als ein Akt, dass heißt, als eine intentionale Orientierung.

Obwohl dieser Ansatz sich der naturalistischen und der alltäglichen Vorstellung der Liebe schon teilweise entgegensetzt, indem er sie nicht als ursprüngliche unverfeinerte Neigung betrachtet, untersucht er nicht die Eigengesetzlichkeit der Liebe als bestimmte Form der (interpersönlichen) Erfahrung. Man könnte sich aber die Frage stellen, in welchem Zusammenhang diese mit den anderen verfügbaren, sozialen Formen der Orientierung steht.

Diese Vertiefung leistet die philosophische Kritik der Lebensformen, die eben auf die Selbstreferentialität der Erfahrung zielt mit der Voraussetzung, dass sie auch ganz anders sein könnten: Werte und Denkformen (Nietzsche), Diskurse und Praktiken der Subjektivität (Foucault), Sprachspiele (Wittgenstein) scheinen als absolut und auf sich selbst angewiesen, weil sie als gewöhnlich unsere Perspektive einschränken. Erfahrung, Gefühle, Handlungsarten haben eine historische Herkunft und müssen deshalb in Bezug auf ihre soziale Zusammenhänge betrachtet werden.

So fragt sich zum Beispiel Nietzsche, ob diese blinde Eigengesetzlichkeit der Liebe, die sich in die entsprechenden Kategorien der subjektiven Erfahrung umsetzt, nicht innerhalb der sozialen Ordnung zu untersuchen wäre, nämlich als anerkannte soziale Kompensation der sozialen Gerechtigkeit, die jedem nur das zuschreibt, was er verdient (Menschliches, Allzumenschliches § 69).

Die soziologische Theorie hat diese Kritik noch weiter geführt. Nicht nur ist die Liebe als (eine) Form der sozialen Orientierung zu verstehen: ihre merkwürdigen Merkmale sind schon die semantischen Ergebnisse der Entwicklungsprozesse, aus denen diese besondere Orientierungsform entstanden ist. So wäre laut N. Luhmann (Liebe als Passion, 1982) auch die Vorstellung der Eigengesetzlichkeit Bestandteil der sozialen Funktion der Liebe: die passionierte Liebe wirkt als gesellschaftlich anerkannte Form der Unvernünftigkeit, die die Kommunikation und den Aufbau von Bindungen ermöglicht, wo das besonders unwahrscheinlich und schwierig fällt. Desorientierung, Blindheit, Wahn gehören laut Luhmann zur historisch entwickelten Semantik der Liebe als Kommunikationsmedium und der entsprechenden Erfahrungsformen.

So wäre die blinde passionierte Liebe als Sonderfall der Orientierung zu betrachten: eine Orientierung, die sich auf jene kodierte Semantik bezieht, die eine erlaubte und anerkannte Ausnahme von der sozialen Ordnung strukturiert. Als solche ist aber diese Ausnahme auch Bestandteil und spezifische Funktion der Ordnung der Gesellschaft, eine kommunikative Erfahrungsform, die Eigenschaften und Handlungen der anderen so berücksichtigt, wie es keine andere kann. Wie R. Barthes (Fragments d’un discours amoureux, 1977) gezeigt hat, ist der Diskurs über die Liebe, dessen auch die Philosophie sich bedient, nicht bloße Mitteilung oder Beschreibung der Gefühle, sondern schon die Semantik, die diese Gefühle als kommunikative Praxis gliedert und als Erfahrung bietet.

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Curriculum Vitae von Dr. Chiara Piazzesi

Studium:
  • Bis 2000: Philosophie (Università di Pisa, Scuola Normale Superiore di Pisa (Italien)). Abschluss: Laurea
Promotion:
  • 2005: Für eine Theorie der ästhetischen Kommunikation der Macht: von Nietzsche zur jetzigen Soziologie (Università di Lecce (Italien))
Forschungsschwerpunkt(e):
  • Nietzsches Denken
  • Die Philosophie Pascals, in Hinblick auf P. Bourdieus soziologische Theorie und auf Kierkegaards und Wittgensteins philosophische Ansätze
  • Philosophische und soziologische Theorie der Affekte als einverleibte soziale Semantik
Berufliche Stationen:
  • 2005 - 2007: Post-doc Stipendiatin an der Scuola Normale Superiore di Pisa
  • 11.2007 - 08.2008: DAAD Post-doc Stipendiatin an der Universität Greifswald
Wichtigste Publikation(en):
  • Nietzsche: fisiologia dell’arte e décadence (Nietzsche: Physiologie der Kunst und décadence), Lecce, Conte 2003, SS. XI, 300.
  • Abitudine e potere. Da Pascal a Bourdieu (Gewohnheit und Macht. Von Pascal zu Bourdieu), Pisa, ETS 2003, SS. 152.
  • La verità come trasformazione di sé. Terapie filosofiche in Pascal, Kierkegaard e Wittgenstein (Die Wahrheit als Selbsttransformation. Philosophische Therapien bei Pascal, Kierkegaard und Wittgenstein), erscheint 2008, Pisa, ETS.
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