Sektionsredner
Professor Dr. Herta Nagl-Docekal (Wien, A)
Many forms of non-public reason. Moral und Recht aus der Optik der heutigen rechtsphilosophischen Debatte
Abstract
Theoretiker des liberalen, demokratischen Verfassungsstaats gehen vom "Faktum des Pluralismus" aus: Es sei heute damit zu rechnen, dass in Bezug auf grundlegende Sinnfragen sehr unterschiedliche Überzeugungen vertreten werden. Rawls diagnostiziert eine Diversität "umfassender Lehren", die jeweils einen philosophischen, moralischen oder religiösen Zuschnitt aufweisen und letztlich unvereinbar sind. Um die darin angelegten Konflikte zu unterbinden, werden die Entscheidungen über die Ordnung des Gemeinwesens einer von allen geteilten "öffentlichen Vernunft" überantwortet, die eine "nicht-metaphysische", "für alle Bürger rational akzeptable Begründung der Verfassungsgrundsätze" (Habermas) zu leisten vermag. Zu den zentralen Elementen der so legitimierten Ordnung gehört das Prinzip der Gesinnungsfreiheit, das den divergierenden Weltsichten einen (rechtlich begrenzten) Freiraum zusichert. Die "umfassenden Lehren" werden damit der "Hintergrundkultur" zugeordnet. - Diese für den modernen Staat grundlegendeTheoriebildung wird häufig mit dem Anspruch verbunden, zugleich eine zeitgemäße Philosophie des Normativen toto genere darzustellen; kennzeichnend ist die These, Kants Moralphilosophie könne mit kontraktualistischen Mitteln rekonstruiert werden - sie könne "durch die Konstruktion des Urzustandes eine prozedurale Deutung" erfahren. Der Vortrag macht dagegen geltend, dass eine so komprehensive Deutung des rechtstheoretischen Vernunftbegriffs die Gefahr eines Reduktionismus - sowohl im Blick auf einen angemessenen Begriff von Moral als auch hinsichtlich des Verhältnisses von Religion und Vernunft - mit sich bringt.
Im ersten Teil des Vortrags wird die Rawls'sche Konzeption mit dem komplexen Gedankengang konfrontiert, in dem Kant die Differenz von Recht und Moral enfaltet. Bezug genommen wird u.a. darauf, dass Kant die Vertragskonzeption in zwei unterschiedlichen, wiewohl aufeinander abgestimmten Modi begründet, indem er zum einen vom pragmatischen Verstand, zum anderen von der reinen prakischen Vernunft ausgeht. Dadurch wird gezeigt, dass bei Rawls, der diese Differenzierung "empiristisch" unterläuft, die Begriffe "Gerechtigkeitssinn" und "Tugend" pragmatisch unterbestimmt bleiben; und ferner, dass Moral im eigentlichen Sinn (eines Handelns, das sich nicht heteronom an Nutzen-Erwägungen orientiert) im Rahmen seines Denkens keine Verbindlichkeit erlangen kann, da die diesbezügliche Verständigung auf einen durch "many forms of non-public reason" geprägten Raum verwiesen ist, d.h. auf die Binnenlogik besonderer Gemeinschaften, die durch so "tiefe und unauflösliche Differenzen" von einander abgegrenzt sind, dass sie "zwischen ihren unverträglichen Lehren keine Übereinkunft erreichen oder sich auch nur einem wechselseitigen Verständnis annähern können." Dieser Rawls'schen Sicht wird Kants Konzeption des "öffentlichen Vernunftgebrauchs" gegenüber gestellt, die einen allgemeinen Diskurs über Gewissensfragen als möglich - und auch als ein Desiderat - ausweist.
Der zweite Teil des Vortrags sondiert, ob die These von den "unauflöslichen Differenzen" im Blick auf die Pluralität der Religionen größere Plausibiltät beanspruchen könne. Legen die de faco gegebenen Konflikte mit religiöser Konnotation eine philosophische Konzeption zwingend nahe, die die Sphäre der Religion als eine Pluralität von Systemen deutet, die sich jeweils nur für die Mitglieder der einzelnen Glaubensgemeinschaften als vernünftig ausnehmen? Erörtert wird zunächst das Verhältnis von Religion und Philosophie, u.a. im Blick auf die Habermas'sche These, dass Religion einen "opaken Kern" habe. Demgegenüber wir der Deutungscharakter religiöser Traditionen hervorgehoben. Der Vortrag nimmt auf die von Hegel erörterte Relation von "Vorstellung" und "Begriff" Bezug und plädiert dafür, Hegels Auseinandersetzung mit der Religionskritik der Aufklärung erneut zu rezipieren: Demnach geht die Auffassung, dass Religion "ein Jenseits für das Erkennen" sei, auf den "Standpunkt der verständigen Aufklärung" zurück, während sich seit der protestantischen Wende des Christentums die Aufgabe einer denkenden, d.h. philosophischen Aneignung der Glaubensinhalte stelle. Es wird thematisiert, ob im Kontext der heutigen Bedingungen - insbesondere im Blick auf "Freiheit" und "Gleichheit" als Schlüsselprinzipien des modernen Staates - philosophische Re-Interpretationsversuche tradierter Glaubenswahrheiten generell angezeigt seien. Dabei kommt auch die von Rawls aufgeworfene Frage nach der Binnenperspektive der Gläubigen zur Sprache: Wie können religiös gebundene Menschen, ohne in eine gespaltene Identität zu geraten, zugleich aktive Bürger eines liberalen Verfassungsstaates sein? Ferner wird zu bedenken gegeben, dass die These von den "unauflöslichen Differenzen" in ihrer Konsequenz möglicherweise eben jenes Konfliktpotential bestärkt, das zunächst den Stein des Anstoßes gebildet hat.