Sektionsredner
Dr. Andrei Laurukhin (Minsk, BY) - Curriculum Vitae
Lebensweltbegriff bei E. Husserl, A. Schütz und J. Habermas
Abstract
Lebensweltbegriff bei E. Husserl, A. Schütz und J. Habermas:
von Inkonsistenz zur Konsequenz?
Der Lebensweltbegriff ist dank seinem intensiven Gebrauch in philosophischer und wissenschaftlicher Sprache zu einer Selbstverständlichkeit geworden, die anscheinend keine spezielle Erklärung braucht. Die Gemeinverständlichkeit hat aber diesem Begriff eine negative Dienst erwiesen, da er oft rhetorisch und inflationär gebraucht wird. Insoweit bedarf es einer Vergewisserung darüber, welchen systematischen Status die Hinwendung zur „Lebenswelt“ bei Husserl einnimmt und welche Rolle dieser Begriff in der Wirkungsgeschichte der an Husserl orientierten Philosophie und Soziologie spielt.
Werkgeschichtlich kann man bei Husserl die Urformen des Lebensweltbegriffs schon in der Konstitution der Gestigen Welt (1913) finden. Dieser Begriff nimmt doch eine systematische Stellung erst in Husserls Krisis-Schrift ein. Husserls Anspruch in seiner Krisis-Schrift geht dahin, durch eine Besinnung auf die vortheoretische Lebenswelt die letztbegründende Sphäre der reinen Subjektivität zu erschließen, die nicht zur Lebenswelt gehört. Dabei springt in die Augen die Inkonsistenzen des Husserlschen Lebensweltbegriffs: Lebenswelt soll einerseits eine Struktur aufweisen, die für alle je mögliche Lebenswelten invariant sein soll; andererseits stellt Husserl eine Pluralität von Lebenswelten fest, was eine Pluralität von lebensweltlichen Strukturen voraussetzt. Diese Inkonsistenz ist auch dadurch vertieft, dass bei Husserl keine scharfe Grenze zwischen der speziellen lebensweltlichen Intersubjektivität und der transzendentalen Intersubjektivität gezogen wird: in vielen Passagen der Krisis-Schrift finden wir, dass diese Grenze sowohl als geschichtlich, als auch als mit einer über- bzw. vor-geschichtlichen Struktur ausgestattet bestimmt wird. Auf diesem Grund läßt sich die Struktur der Lebenswelt zweideutig erklären: auf der einen Seite im Rekurs auf die lebensweltliche Erfahrung kann man sie als Struktur aller Erfahrung vestehen, andererseits soll die transzendentale (Inter-)Subjektivität als der Inbegriff der Strukturiertheit gelten.
Im Werk Schütz vollzieht sich eine Wende zur Soziologie des Alltags, die auf dem Lebenswelt als eines „Gesamtzusammenhang der Lebenssphäre“ (Gesammelte Aufsätze I: S. 284), als einer intersubjektiv sinnhafte Welt, an der Menschen durch ihre alltäglichen Handlungen, durch ihre natürliche (d. h. vorwissenschaftliche) Erfahrung teilhaben, beruht. Schütz distanziert kritisch von der phänomenologischen Reduktion und für seine Hinwendung zu Phänomenen der Lebenswelt und zu der mundanen Intersubjektivität. Die Soziologie habe sich als eine Soziologie des Alltags der Erforschung der mundanen Intersubjektivität zu widmen, insbesondere solle sie die „invarianten eigenwesentlichen Strukturen[…] einer Gemeinschaft“ (Gesammelte Aufsätze I: S. 138) untersuchen. Es ensteht aber die Frage, was bei Schütz das invariante Charakter dieser Strukturen sichert und inwieweit die von Schütz konzipierten invarianten „Strukturen der Lebenswelt“ die Pluralität von lebensweltlichen Strukturen voraussetzt.
Der von Edmund Husserl erstmals entwickelte und von Alfred Schütz in die Soziologie eingeführte Begriff der Lebenswelt kennzeichnet die Teilnehmerperspektive der handelnden Subjekte bei J. Habermas. Kommunikativ handelnde Subjekte verständigen sich für Habermas „stets im Horizont einer Lebenswelt“ (Habermas J. Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II, S. 192). Da aber „die Lebenswelt gleichsam der transzendentale Ort ist, an dem sich Sprecher und Hörer begegnen“, entsteht die Frage, wie wäre die plurale lebensweltliche mit der invarianten transzendentalen Dimension der Lebenswelt in Einklang zu bringen.
Der Vortrag stellt sich als Aufgabe, am Leitfaden der obengestellten Fragen aufzuklären, inwiefern hat es A. Schütz und J. Habermas gelungen, die Inkonsistenzen des Husserlschen Lebensweltbegriffs zu überwinden und damit das Konzept der Lebenswelt konsequenter durchzudenken.
Curriculum Vitae von Dr. Andrei Laurukhin
- Bis 1995: Philosophie (Belarussische Staatliche Universität zu Minsk). Abschluss: BA
- 2001: Die Genesis der Konzeption der Intentionalität: von deskriptiver Psychologie Brentanos zur frühen Phänomenologie Husserls (St. Petersburger Staatliche Universität (Russland))
- 2009: Phänomenologie als praktische Philosophie: Genese, kritische Rezeptionen, gegenwärtige Konstellationen (Russische Staatliche Humanistische Universität zu Moskau)
- Europäische Humanistische Universität (Im Exil)
- Klassische Phänomenologie (E. Husserl insbesondere) und zeitgenossische phänomenologische Theorien
- Politische Philosophie der Neuzeit und des XIX. Jahrhunderts
- Wissenssoziologie, Phänomenologische Soziologie, Ethnometodologie
- 1998 - 2001: Wissenschaftlicher Assistent an der Europäischen Humanistischen Universität zu Minsk
- 2001 - 2006: Dr. für Philosophie an der Fakultät für Philosophie (EHU, Minsk-Vilnius)
- 2006 - jetzt: Direktor des BA Programms „Soziale und politische Philosophie“ an der Fakultät für Philosophie der EHU im Exil ( Minsk-Vilnius)
- Demokratie und Nachdemokratie. Versuch einer phänomenologischen Analyse, в: Akten des 3. MitOst-Forum. Philosophie (“Jan Patocka und die Idée Europa”). 2003. München. S. 10-25. (auf deutsch)
- Das Sein und die Sprache im Netz der intentionalen Beziehungen: Brentano-Husserl, in: „Problemos“, Vilnius: Vilnius University Publishing House. 2005. S. 92-100 (auf deutsch)
- Husserl’s Practical Philosophy: The Project of a Scientific Ethics. // Phenomenology 2005, Vol. IV, Selected Essays from Northern Europe, ed. Hans Rainer SEPP & Ion COPOERU. Bucharest: Zeta Books, 2007. Pp. 425-439. (In English). ISBN (book) 978-973-88632-0-0. ISBN (vol 1) 978-973-88633-6-1 (1)