Sektionsredner
Priv.-Doz. Dr. Meinard Kuhlmann (Bremen) - Curriculum Vitae
Können Physiker noch mehr als Physik?
Abstract
Im 20. Jahrhundert hat die Physik umwälzende Entdeckungen gemacht, die zu den größten der Menschheitsgeschichte gezählt werden. Seit einigen Jahrzehnten verliert die Physik jedoch an Attraktivität, da ihr die Betätigungsfelder für relevante Neuentdeckungen ausgegangen zu sein scheinen. Nicht, dass alle großen Probleme gelöst wären, aber entweder widersetzen sie sich hartnäckig einer Lösung oder die Lösungsvorschläge erfordern derart aufwendige empirische Überprüfungen, dass sie alle Wissenschaftsbudgets überschreiten. Folgerichtigerweise haben sich viele Physiker in ferne Länder wie die Biologie und die Ökonomie aufgemacht. Ich will in meinem Beitrag untersuchen, ob und in welchem Sinne sich der Anwendungsbereich und der Charakter der Physik dabei erweitert, und warum bei diesem Prozess wissenschaftsphilosophische Überlegungen auch für die Einzelwissenschaften wichtig sind
Ein entscheidender Grund für die Hoffnung der Physiker, auch außerhalb ihrer angestammten Gebiete erfolgreich sein zu können, liegt in Entdeckungen, die erst um 1970 reiften und zu den letzten ganz großen Entwicklungen in der Physik gehören. Nichtsdestotrotz sind diese entscheidenden Entdeckungen einer breiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit verborgen geblieben. Es handelt sich hierbei um die moderne Theorie der Phasenübergänge und zwar speziell um die sogenannten kritischen Phänomene. Ein wesentliches Ergebnis dieser Theorie, die durch kurz davor gemachte Beobachtungen erhärtet wurde, besteht darin, dass es unter bestimmten Bedingungen ‚universelles Verhalten’ gibt. Die Universalität, welche die Physiker hierbei meinen, hat eine ganz spezifische und theoretisch solide untermauerte Bedeutung. Auch mikroskopisch gänzlich unterschiedliche physikalische Systeme können auf der Makroebene in einigen Hinsichten dasselbe Verhalten zeigen, ohne dass dies auf Grund irgendwelcher bis dato existierender Theorien erwartbar wäre. Zunächst führten diese Einsichten zu diversen fruchtbaren Übertragungen bzw. Grenzbeseitigungen innerhalb der Physik. Seit gut ein bis zwei Dekaden machen sich Physiker nun daran, gewagtere Schritte zu gehen, und untersuchen, ob Universalitätsüberlegungen sowie die mit viel Erfolg vorgeschlagenen Erklärungsmuster nicht auch bei noch radikaler verschiedenartigen Systemen tragen.
Nach meiner Einschätzung ist dieses Vorgehen der Physiker sehr gut begründbar. Bereits innerhalb der Physik, behaupte ich, stellt die moderne Theorie der Phasenübergänge eine strukturelle Theorie dar, die sich somit grundlegend z. B. von der Quantenphysik unterscheidet. Sie beschreibt insbesondere, wie die lokale ungerichtete Wechselwirkung von Systembestandteilen zu umfassenden abrupten Veränderungen wesentlicher Ordnungsmuster auf der Systemebene führen kann. Es spricht viel dafür, dass diese konzeptionell, methodisch und mathematisch ausgefeilte Theorie nicht nur zur Erklärung der Supraleitung nutzt, sondern auch z. B. bei der Analyse von Tsunamis oder Finanzmarktcrashs auf die eine oder andere Weise ihre Dienste leisten kann.
Damit haben sich Physiker jedoch nicht zufrieden gegeben. Es gibt inzwischen auch eine Quantenfinanztheorie und eine Eichfeldtheorie der Ökonomie. Hier jedoch, das ist meine zweite Behauptung, sind die Grenzen begründeter Übertragbarkeit weit überschritten. So wird etwa argumentiert, dass die Quantenphysik naheliegender Weise auch in der Ökonomie ihre Gültigkeit hat, da auch Marktteilnehmer letztlich aus elementaren Bestandteilen bestünden, die den Gesetzen der Physik unterliegen. Hieraus wird deutlich, dass den beteiligten Physikern mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht klar ist, dass die moderne Theorie der Phasenübergänge nur wegen ihrer strukturellen Natur auch außerhalb der Physik von Bedeutung ist und nicht deswegen, weil alle makroskopischen Gegenstände letztlich den Gesetzen der Physik unterliegen. Die moderne Theorie der Phasenübergänge aus der Statistischen Physik ist deswegen in andere Bereiche übertragbar, weil sie wesentliche Anteile enthält, die gerade nicht physikspezifisch sind. Wissenschaftsphilosophische Analysen sind also notwendig, um die Reichweite und die Grenzen der Übertragung physikalischer Theorien zu bestimmen. Ich möchte meine Behauptungen untermauern durch die Ausführung eines Erklärungsansatzes bei dem ‚strukturelle Mechanismen’ eine zentrale Rolle spielen.
Curriculum Vitae von Priv.-Doz. Dr. Meinard Kuhlmann
- Bis 1995: Magisterfächer: Philosophie, Geschichte, Diplomfach: Physik (Bochum, München, St. Andrews, Köln). Abschluss: Dipl.-Phys.
- 2000: In Search for an Ontology of Quantum Field Theory (Bremen)
- 2008: On Markets and Magnets: Explanation, Reduction and Mechanisms in Econophysics (Arbeitstitel) (Bremen)
- Bremen
- Naturphilosophie; bes. Philosophie der Physik
- Analytische Ontologie
- Wissenschaftstheorie; bes. Erklärungstheorien und Philosophie komplexer Systeme
- 1996 - 2000: Wissenschaftlicher Mitarbeiter
- 2000 - 2007: Wissenschaftlicher Assistent
- 2007 - heute: Akademischer Rat
- Ontological Aspects of Quantum Field Theory (2002), zus. m. H. Lyre und A. Wayne
- How do microscopic models of financial markets explain? (2006)
- Theorien komplexer Systeme: Nicht-fundamental und doch unverzichtbar? (2007)