Sektionsredner
Professor Dr. Wolfgang Huemer (Parma, I) - Curriculum Vitae
Lebensweltliche und naturwissenschaftliche Ansätze in der Philosophie des Geistes: Wilfrid Sellars' Utopie eines synoptischen Blickes
Abstract
In seinem Aufsatz “Philosophy and the Scientific Image of Man” unterscheidet Wilfrid Sellars zwei Ebenen der Beschreibung: das lebensweltliche oder, wie er es nennt, manifeste und das naturwissenschaftlichen [scientific] Bild des Menschen. Das manifeste oder, wie er es auch nennt, ursprüngliche Bild ist eine Verfeinerung und Ausarbeitung des „image in terms of which man first came to be aware of himself as man-in-the-world“ (Sellars, 1963: 18). Seine Vision wissenschaftlichen Fortschritts besteht darin, dass dieses Bild nach und nach durch ein (natur-)wissenschaftliches Bild abgelöst wird, also ein Bild, das in wissenschaftlichen Theorien ihren Ausdruck findet, die sich dadurch auszeichnen, dass sie „imperceptible objects and events for the purpose of explaining correlations among perceptibles“ (Sellars, 1963: 19) postulieren. Während sich das manifeste Weltbild also in einem „framework of perceptible objects“ bewegt, bezieht sich das naturwissenschaftliche Bild auf sinnlich nicht wahrnehmbare physische Entitäten (Atome, Elektronen, etc.), aus denen jene zusammengesetzt sind. Geht es darum, die Rolle des Menschen in dieser Welt zu beschreiben, so geht das manifeste Bild von dem Begriff der Person aus, denen Überzeugungen, Wahrnehmungen, Empfindungen und Wünsche etc. zugeschrieben werden, während das naturwissenschaftliche Bild mentale Phänomene auf der sub-personalen Ebene beschreibt, sie also auf rein kausale Prozesse, die sich in unserem Nervensystem abspielen, reduziert, wie das etwa auch in der gegenwärtigen Neurophysiologie geschieht.
Sellars hält allerdings fest, dass es falsch wäre, das manifeste Bild als unwissenschaftlich abzutun. Bei der Unterscheidung zwischen manifestem und naturwissenschaftlichem Bild handle es sich nicht um einen Gegensatz zwischen einem wissenschaftlichem und einem unwissenschaftlichem Bild des Menschen, sondern vielmehr um den zwischen zwei Ebenen der Beschreibung, die verschiedenen methodologischen Grundsätzen folgen. Dennoch liegen seine Prioritäten deutlich auf Seiten des naturwissenschaftlichen Bildes: das manifeste Bild mag zwar ein äußerst geeignetes Instrument für die Bedürfnisse unseres alltäglichen Lebens darstellen, es ist aber dennoch „inadequate and should not be accepted as an account of what there is all things considered“ (Sellars, 1963: 27). Durch die Einführung neuer und die Verfeinerung der althergebrachten Kategorien ist das naturwissenschaftliche Weltbild in der Lage, die ontologische Struktur der Welt exakter, getreuer und detaillierter darzustellen als das Manifeste.
Am Ende seines Artikels macht Sellars allerdings eine interessante Wende: Er gesteht ein, dass das naturwissenschaftliche Weltbild aus prinzipiellen Gründen nicht in der Lage sei, alle Phänomene zu fassen. Wollen wir also ein vollständiges Bild des Menschen in dieser Welt formulieren, so ist es nötig, Aspekte des manifesten Bildes in das naturwissenschaftliche Bild zu integrieren, um so zu einem „synoptischen Blick“ zu gelangen. Das kann nur geschehen, wenn das naturwissenschaftliche Bild dabei um die Möglichkeit, den Begriff der Person und den intentionaler Zustände, die Personen zugeschrieben werden, sowie den der Gemeinschaft, die durch regelgeleitete soziale Praktiken charakterisiert ist und somit über ein intrinsisch normatives Element verfügt, wissenschaftlich zu fassen, bereichert werde. Da die beiden Bilder aber von sehr verschiedenen Grundannahmen ausgehen und sehr verschiedene Methoden anwenden, ist es schwierig, zu sehen, wie eine solche Verbindung möglich sein kann. Sellars gesteht in den letzten Sätzen des Artikels ein, dass er nicht erklären kann, wie wir uns diesen synoptischen Blick im Detail vorstellen sollten:
"We can, of course, as matters now stand, realize this direct incorporation of the scientific image into our way of life only in imagination. But to do so is, if only in imagination, to transcend the dualism of the manifest and the scientific images of man-of-the-world." (Sellars, 1963: 40)
Im ersten Teil meines Vortrags will ich Sellars’ Auffassungen über das Verhältnis von manifestem und naturwissenschaftlichem Bild des Menschen detaillierter analysieren. Im zweiten Teil will ich die Sellars’sche Position auf das Verhältnis von Philosophie des Geistes und Neurowissenschaften anwenden. Ist es vorstellbar, dass eine naturwissenschaftlich ausgerichtete Theorie der Neurowissenschaften um Aspekte bereichert wird, die dem intrinsisch normativen Element des Mentalen gerecht werden? Ist ein solcher „synoptischer Blick“ möglich und, wenn ja, wünschenswert? Mein allgemeines Ziel ist es, ein Argument zu entwickeln, das für einen methodischen Pluralismus der Beschreibung eintritt.
Bibliographie
Sellars, Wilfrid (1963): „Philosophy and the Scientific Image of Man“, in: Science, Perception, and Reality. Atascadero: Ridgeview, pp. 1–40.
Curriculum Vitae von Professor Dr. Wolfgang Huemer
- Bis 1999: Philosophie, Germanistik (Salzburg, Bern, Toronto). Abschluss: PhD
- 1999: The Constitution of Consciousness. A Study in Analytic Phenomenology (Toronto)
- Università di Parma
- Philosophie des Geistes
- Erkenntnistheorie
- Philosophie der Literatur
- 2001 - 2006: wissenschaftlicher Mitarbeiter
- 2006: ricercatore
- The Constitution of Consciousness. A Study in Analytic Phenomenology. New York: Routledge, 2005
- A Sense of the World: Essays in Fiction, Narrative, and Knowledge. (Hrsg., mit John Gibson und Luca Pocci), New York: Routledge, 2007.
- Wittgenstein und die Literatur. (Hrsg., mit John Gibson), Frankfurt: Suhrkamp, 2006.