Sektionsredner
Dr. Elisabeth Hildt (Tübingen)
Gehirn-Computer-Interaktionen: anthropologische und ethische Aspekte
Abstract
Durch große Fortschritte der Neurowissenschaften wurden in den letzten Jahren die Voraussetzungen für die Entwicklung und den Einsatz vielfältiger neuer medizinischer Verfahren geschaffen. So werden auf dem Gebiet der Neurotechnologie, die auf multidisziplinärer Zusammenarbeit zwischen neurowissenschaftlicher Grundlagenforschung und technologischen Anwendungsfeldern beruht, innovative Ansätze in Bereichen wie der Informations- und Kommunikationstechnologie, der Robotik und der Biomedizin entwickelt. In der Biomedizin gehören hierzu sensorische Prothesen wie Cochlea- oder Retina-Implantate, die Verfahren der Tiefenhirnstimulation sowie die verschiedenen Ansätze direkter Gehirn-Computer-Schnittstellen.
Im Zusammenhang direkter Gehirn-Computer-Schnittstellen werden elektrophysiologische Veränderungen im Gehirn einer Person zur Kontrolle von externen Elementen verwendet. Mithilfe der auf diesem Weg erhaltenen Signale kann einer Person ermöglicht werden, einen Computercursor auf einem Bildschirm zu steuern oder prothetische oder eigene Gliedmaßen zu bewegen. Derzeitige und künftige Einsatzmöglichkeiten betreffen Personen mit neuromuskulären Erkrankungen, Rückenmarkverletzungen oder Amputationen, Schlaganfall-Patienten sowie Locked-in-Patienten.
Demgegenüber erfolgt bei Tiefenhirnstimulations-Verfahren eine elektrische Stimulation spezifischer Gehirnbereiche mittels ins Gehirn implantierter Elektrodenanordnungen. Diese Methodik wird bereits seit Mitte der 1990er Jahre erfolgreich zur Behandlung von Bewegungsstörungen wie insbesondere Morbus Parkinson eingesetzt. Zudem werden seit einiger Zeit Studien zur Möglichkeit des Einsatzes von Neurostimulationsverfahren bei anderweitig therapierefraktären Fällen schwerer neuropsychiatrischer Erkrankungen wie Zwangsstörungen, bei Gilles-de-la-Tourette-Syndrom oder bei schweren Depressionen durchgeführt.
Diese Ansätze sind mit großen Hoffnungen für betroffene Patienten verbunden, mit ihnen gehen jedoch auch vielfältige über den naturwisschenschaftlich-medizinischen Bereich hinausgehende Implikationen einher. Denn es handelt sich hierbei um Verfahren, die sich auf das menschliche Gehirn beziehen, d.h. auf das für die gesamte Existenz des Menschen, sein Selbstverständnis, sein Denken und seine Persönlichkeit zentrale Organ. Nicht zuletzt spielt bei diesen neurotechnologischen Verfahren die Sorge vor einer Technisierung des menschlichen Körpers und vor einem Verlust der menschlichen Identität eine Rolle.
Anhand von zwei neurotechnologischen Ansätzen –der Tiefenhirnstimulation und der direkten Gehirn-Computer-Schnittstellen – werden im Rahmen des Vortrags grundlegende theoretische und ethische Aspekte einer direkten Interaktion zwischen menschlichem Gehirn und technischem System diskutiert. Hierbei wird insbesondere der Frage nach der Möglichkeit der betreffenden Person nachgegangen, das technische System in das Selbstbild zu integrieren, es quasi "einzuverleiben".
Auf theoretischer Ebene werden diese Fragen ausgehend von einer phänomenologischen Zugangsweise diskutiert. Hierzu wird zurückgegriffen zum einen auf die von Maurice Merleau-Ponty durchgeführten Überlegungen zum Leib und zur Möglichkeit des "Einverleibens" gewohnheitsmäßig gebrauchter Werkzeuge. Zum anderen wird Bezug genommen auf Helmuth Plessners Ansatz zur Innen-Außen-Divergenz und zur Grenzrealisierung, um vor diesem Hintergrund mögliche Implikationen direkter Gehirn-Computer-Interaktionen auf Körperlichkeit, Leibsein, Innenleben und Selbstbild der betreffenden Personen zu diskutieren.
Aufbauend auf den dargelegten anthropologischen Überlegungen werden anschließend ethische Aspekte direkter Gehirn-Computer-Interaktionen thematisiert.