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FAQ

Sektionsredner

Dr. Tim Henning (Jena)
Historische Eigenschaften, Supervenienz und Narration

Abstract

Die These dieses Vortrags lautet: Die Geisteswissenschaften sind unverzichtbar, und zwar gerade dann, wenn man verstehen will, wie die sinnhaften Konstituenten unserer Lebenswelt zugleich Teil der natürlichen Welt sein können. Der Vortrag zeigt zunächst, dass speziell die geschichtlichen Aspekte der Wirklichkeit sich einer einfachen naturalistischen Beschreibung widersetzen. Dann aber erweist er gerade ein Mittel der Geisteswissenschaften als eine Möglichkeit, das Historische und das Physikalische zu verknüpfen: die Erzählung. Historische Gegenstände sind natürliche Gegenstände, die anhand bestimmter narrativer Rollen herausgegriffen werden. Geschichten spezifizieren also Bedingungen, unter denen natürliche Entitäten Teile einer historischen Wirklichkeit darstellen.

 

Auf dem Weg zu dieser Konklusion setzt mein Vortrag, wie gesagt, bei einem wenig beachteten Problem für den Naturalismus an: das Geschichtliche. Sogar dann, wenn mentale und normative Eigenschaften naturalisierbar wären, wären die historischen Aspekte der Wirklichkeit noch immer eine eigene Quelle von Problemen für den Naturalismus. Um dies zu zeigen, definiere ich eine Klasse historischer Eigenschaften, zu denen z. B. ein-Gesuch-ablehnen, einen-Fehler-korrigieren und einen-Rückfall-erleiden gehören. Solche Eigenschaften sind historisch in dem Sinne, dass ihre Instantiation zu einer Zeit begrifflich davon abhängt, dass andere Eigenschaften zu anderen Zeiten instantiiert sind.

Historische Eigenschaften strukturieren unsere Lebenswelt ebenso wie den Gegenstandsbereich der Humanwissenschaften. Ihr Verhältnis zu den fundamentalen Eigenschaften der Physik ist jedoch unklar. Diese sind nämlich nicht historisch (im definierten Sinne); daher fragt sich, wie sie den historischen Aspekten der Wirklichkeit in irgendeinem Sinne zugrunde liegen könnten. Ich verdeutliche das Problem, indem ich einige Varianten von Supervenienzthesen diskutiere. Gibt es einen Sinn, in dem die physikalischen Aspekte der Wirklichkeit ihre historischen Aspekte festlegen? Als haltbar erweist sich erst eine sehr globale These: Historische Eigenschaften supervenieren über den physikalischen Eigenschaften und den raumzeitlichen Relationen in einer Welt.

Diese These führt jedoch erst auf das eigentliche Problem. Ich zeige, dass sie so allgemein ist, dass sie unseren Intuitionen über den Zusammenhang von Physikalischem und Historischem nicht gerecht wird. Sie lässt zu, dass die historischen Aspekte der Wirklichkeit von minimalen, entfernten physikalischen Faktoren abhängen. So könnte z. B. der Zeitpunkt meines letzten Niesens für die Existenz bedeutsamer Zusammenhänge in der römischen Geschichte relevant sein. Das erscheint absurd – und dies zeigt: Wir haben sehr viel spezifischere Vorstellungen darüber, welche physikalischen Faktoren für die Instantiation einer historischen Eigenschaft relevant sind. Die Supervenienzthese zeichnet solche relevanten Faktoren aber nicht aus. Der Grund: Historische Eigenschaften bilden aus der Sicht der Physik keine natürlichen Arten. Jede Möglichkeit, die relevanten Faktoren zu isolieren, ist unter physikalischen Gesichtspunkten arbiträr.

 

Es gibt jedoch, so behaupte ich, Abhilfe, und die verschaffen eben Erzählungen. Historische Eigenschaften werden anhand ihrer historischen Rollen individuiert; daher können wir spezifizieren, was sie ausmacht, indem wir erzählen, wie sie zustande kommen. Man kann kanonische Erzählungen formulieren, die unser Alltagsverständnis davon ausdrücken, was konstitutiv dafür ist, einen Rückfall zu erleiden, einen Fehler zu korrigieren etc. Solche Narrationen ermöglichen es, Zusammenhänge zwischen dem Historischen und dem Physikalischen aufzuzeigen. Wir können offene Sätze und Kennzeichnungen aus ihnen bilden, und daraufhin bestimmte natürliche Ereignisse als Träger historischer Eigenschaften identifizieren. Auch erlauben narrative Beschreibungen die Spezifikation einer partiellen physikalischen Supervenienzbasis für solche Eigenschaften.

Der Vortrag entwickelt einige formale Mittel, die präzise verdeutlichen, wie dies möglich ist. Mein Vorschlag ist dabei eine Variante einer reduktionistischen Strategie, die z. B. D. Lewis oder F. Jackson verfolgen. Der Witz ist aber, dass die narrativen Beschreibungen hier gewissermaßen nur partiell naturalisieren. Statt in physikalischer Sprache hinreichende Bedingungen für die Instantiation historischer Eigenschaften anzugeben, beruhen sie essentiell auf Begriffen und Zusammenhängen nicht-naturalistischer Art. Ich zeige, dass Narrationen in dieser Funktion unverzichtbar sind. Selbst wenn sie es ermöglichen sollten, physikalische Substrate für historische Eigenschaften zu konstruieren, so bleiben sie doch epistemisch unverzichtbar. Wir hätten nur deshalb Grund, solche Surrogate für adäquat zu erachten, weil sie auf Grundlage jener Geschichten konstruiert wurden. Geschichten liegen unserem Verständnis des Zusammenhangs zwischen historischer und physikalischer Wirklichkeit zugrunde.

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