Sektionsredner
Rico Gutschmidt (Bonn) - Curriculum Vitae
Reduktion und Reduktionismus in der Physik
Abstract
Der Vortrag untersucht die Beziehungen zwischen physikalischen Theorien anhand von Beispielen aus dem Umfeld der Gravitation. Dabei wird ein Reduktionsbegriff erarbeitet, für den gilt, dass eine reduzierte Theorie im Sinne einer reduktionistischen Position prinzipiell überflüssig ist. Davon wird eine Theorienrelation unterschieden, die diesen Anspruch nicht erhebt und die Verträglichkeit heißen soll.
Ausgangspunkt der Überlegungen ist dabei, dass eine Theorie durch eine Reduktion überflüssig würde, wenn sie sich logisch aus einer anderen Theorie ableiten lässt und in diesem Sinne in dieser enthalten ist. Dies wäre innerhalb des Reduktionskonzepts von Ernest Nagel erfüllt, aber Theorien, die vermeintlich in einer Reduktionsbeziehung stehen, widersprechen sich in vielen Fällen, womit es sich bei den Beziehungen zwischen diesen Theorien generell nicht um logische Ableitungen handeln kann.
Innerhalb der Physik wird nun üblicherweise die Unmöglichkeit streng logischer Ableitungen damit umgangen, dass man Gesetze näherungsweise herleitet, wobei Grenzfallbetrachtungen eine wesentliche Rolle spielen. So wird etwa laut Robert Batterman eine physikalische Theorie auf eine andere reduziert, wenn sich die Gleichungen der ersteren aus denen der letzteren dadurch ergeben, dass ein bestimmter Parameter einen Grenzwert annimmt. In diesem Sinne wäre zum Beispiel das Galileische Fallgesetz auf die Newtonsche Mechanik reduziert, da sich die konstante Beschleunigung des ersteren aus letzterer ergibt, wenn der Abstand zur Erde im Verhältnis zum Erdradius den Grenzwert Null annimmt. Allerdings gilt das so gewonnene Gesetz streng genommen nur für Körper, die auf der Erdoberfläche liegen, während das Galileische Fallgesetz explizit für fallende Körper gültig ist, weshalb durch die Sprechweise, die Newtonsche Physik würde für kleine Abstände von der Erdoberfläche im Vergleich zum Erdradius näherungsweise eine konstante Beschleunigung ergeben, eskamotiert wird, dass die Grenzfallbetrachtung keine logische Deduktion etabliert, sondern lediglich einen Vergleich zwischen den beiden Theorien stiftet. Da nun aber das Phänomen fallender Körper gleichwohl auch von der Newtonschen Theorie erklärt wird, und sogar besser als von ihrer Vorgängertheorie, was sich in besagtem Vergleich zeigt, kann das Galileische Fallgesetz als überflüssig bezeichnet werden.
Schwieriger liegt die Sache bei dem Verhältnis zwischen Newtonscher Theorie und Allgemeiner Relativitätstheorie, da der hier mögliche Vergleich zwischen den mathematischen Strukturen dieser Theorien nicht anhand der Erklärung bestimmter Phänomene erfolgt, sondern an den Grundgesetzen selbst, für die solche vergleichenden Grenzfallbetrachtungen zum Beispiel von Erhard Scheibe ausgearbeitet wurden. Diese mathematischen Vergleiche zwischen Theorien mit im übrigen gänzlich verschiedenen Konzepten machen nun die Newtonsche Gravitationstheorie noch nicht überflüssig – dies ließe sich nur behaupten, wenn man deren Gesetze logisch ableiten könnte, was aber wie schon beim deutlich einfacher gelagerten Fall des Galileischen Fallgesetzes nicht möglich ist. War dieses durch die Newtonsche Theorie überflüssig geworden, dann nicht aufgrund der Grenzbeziehung allein, sondern weil letztere ebenso fallende Körper beschreiben kann. Im Gegensatz dazu gibt es nun viele Phänomene, die von der Newtonschen Gravitationstheorie erklärt werden, nicht aber von der ART, da es keine Lösungen der Feldgleichungen für sie gibt. So lassen sich zwar in der Schwarzschildlösung die Planetenbahnen als geodätische Linien von Punkten, die keine felderzeugende Masse besitzen, beschreiben, nicht aber die gravitative Wechselwirkung zwischen Planeten, da dafür genau diese Masse berücksichtigt werden müsste. Für komplizierte Massenverteilungen wie in Kugelsternhaufen oder Galaxien gibt es ebenfalls keine Lösungen der Feldgleichungen. Und numerische Simulationen mit den Feldgleichungen müssen aufgrund deren komplizierter Struktur als heuristische Hilfe wiederum die Newtonsche Gravitationstheorie (in Form der Post-Newtonschen Näherung) verwenden, womit diese zwar verbessert, aber nicht überflüssig wird.
Da eine Theorie nicht aufgrund eines Vergleichs mathematischer Strukturen allein überflüssig wird, eine reduzierte Theorie aber im Sinne einer reduktionistischen Position prinzipiell überflüssig sein sollte, schlage ich vor, zwischen Theorienverträglichkeit, die diesen Anspruch nicht erhebt und auf solchen Vergleichen beruht, und Theorienreduktion, der Phänomenerklärung und Vergleichbarkeit zugrunde liegt, zu unterscheiden. Damit lassen sich etwa das Galileische Fallgesetz und die Keplerschen Gesetze auf das Newtonsche Gravitationsgesetz und die Newtonsche Beschreibung der Planetenbahnen auf die Schwarzschildlösung der ART reduzieren, während die Newtonsche Gravitationstheorie als Ganze mit der ART lediglich verträglich ist.
Curriculum Vitae von Rico Gutschmidt
- Bis 2004: Mathematik (Potsdam und Bonn). Abschluss: Dipl.-Math.
- Das Reduktionsproblem in der Physik (Universität Bonn)
- Universität Bonn
- Philosophie der Physik
- Wissenschaftstheorie
- 2004 - 2007: wissenschaftliche Hilfskraft
- 2007: wissenschaftlicher Mitarbeiter