Sektionsredner
Dr. Frank Dietrich (Leipzig) - Curriculum Vitae
Legalisierung der aktiven Sterbehilfe – Förderung oder Beeinträchtigung der individuellen Autonomie?
Abstract
Die Autoren, die in der aktuellen moralphilosophischen Diskussion für die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe eintreten, stützen ihre Argumentation zumeist auf das Autonomieprinzip. Ihrer Auffassung nach verlangt der Respekt vor der Autonomie, die freien Entscheidungen der Individuen – sofern sie nicht eine Schädigung Dritter zur Folge haben – anzuerkennen. Auch in Hinblick auf das Lebensende müssten die Wünsche, die die an einer schweren Krankheit leidenden Personen aussprechen, grundsätzlich akzeptiert werden. Insofern stelle das Verbot der aktiven Sterbehilfe, das den Individuen eine wichtige Handlungsoption vorenthalte, einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in die Autonomie dar.
Die vorstehend skizzierte Position wird mit drei Arten von Argumenten kritisiert. Erstens wird unter Verweis auf höherrangige Werte, wie etwa die „Heiligkeit des Lebens“, die grundlegende Bedeutung des Autonomieprinzips in Abrede gestellt. Zweitens wird vor den langfristigen Folgen der als erster Schritt auf einer „schiefen Ebene“ wahrgenommenen Legalisierung gewarnt. Drittens wird die Annahme, der Respekt vor der individuellen Autonomie gebiete die rechtliche Zulassung der aktiven Sterbehilfe, in Zweifel gezogen. In dem Vortrag soll ausschließlich der letztgenannte Einwand, der einen internen, d.h. vom Autonomieprinzip ausgehenden Standpunkt einnimmt, diskutiert werden.
Die Kritik kann sich auf Überlegungen berufen, die Gerald Dworkin in seinem Buch „The Theory and Practice of Autonomy“ angestellt hat. Dworkin geht im fünften Kapitel der Frage nach, ob der Besitz zusätzlicher Wahlmöglichkeiten notwendig im Interesse der betreffenden Personen liege. Seiner Darstellung nach kann die Erweiterung des Entscheidungsspielraums verschiedene Nachteile mit sich bringen; unter anderem kann ein Individuum dafür verantwortlich gemacht werden, wenn es die ihm neu eingeräumte Option nicht wahrnimmt. In der Folge kann sozialer Druck ausgeübt werden, die durch Legalisierung einer zuvor verbotenen Handlung hinzugekommene Möglichkeit zu nutzen. Die Individuen werden dann insofern in ihrer Autonomie beeinträchtigt, als sie ihre Präferenzen nur mehr schwer oder gar nicht mehr zu realisieren vermögen.
Die vorstehend dargelegte Argumentation haben verschiedene Autoren auf die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe bezogen. Wenn das Verbot der Tötung auf Verlangen aufgehoben werde, erscheine die Pflege eines unheilbar Kranken nicht länger als selbstverständlicher Akt der Solidarität. Der Betroffene trage dann in den Augen seiner Mitmenschen die Verantwortung dafür, seiner Familie oder einer sozialen Einrichtung eine vermeidbare Belastung aufzubürden. In der Folge werde er sich mit der – mehr oder minder deutlich ausgesprochenen – Erwartung konfrontiert sehen, den vom Gesetzgeber eröffneten Ausweg zu nutzen. Der soziale Druck, der auf dem Patienten laste, könne es ihm unmöglich machen, eine freie Entscheidung über sein Lebensende zu treffen.
In dem Vortrag soll der Einwand einer eingehenden Analyse unterzogen werden. Zunächst soll an Hand verschiedener Fallkonstellationen die Frage erörtert werden, unter welchen Umständen eine Ausübung sozialen Zwangs vorliegt. Dabei muss auch die „Innenseite der Autonomie“, d.h. die körperliche Schwäche und die psychische Belastung des Patienten, Berücksichtigung finden. Wenn die besondere Situation des Kranken angemessen gewürdigt wird, kann zumindest in einigen Fallkonstellationen von einer unfreien Entscheidung gesprochen werden. Insofern verdienen die Bedenken gegen die Zulassung der aktiven Sterbehilfe, die sich auf die Beeinträchtigung der individuellen Autonomie beziehen, ernst genommen zu werden.
Auf der Grundlage des Autonomieprinzips lässt sich aber, wie abschließend gezeigt werden soll, keine Empfehlung für die Beibehaltung des Status quo abgeben. Auch die strafrechtliche Unterbindung der aktiven Sterbehilfe nimmt Patienten, die ihr Leben für nicht mehr lebenswert erachten, eine wichtige Handlungsmöglichkeit. Insofern sind Freiheitsbeschränkungen unvermeidlich; eine Lösung, die der Autonomie aller Personen Geltung verschafft, steht prinzipiell nicht zur Verfügung. In der Abwägung zwischen Legalisierung und Verbot der aktiven Sterbehilfe sprechen aber verschiedene Gesichtspunkte eher gegen die letztgenannte Option. So kann z.B. auf den Umgang mit der passiven Sterbehilfe verwiesen werden, bei der das oben dargelegte Problem des sozialen Zwangs in analoger Form besteht. Obwohl sich der Patient sozialem Druck ausgesetzt sehen kann, eine lebensverlängernde Therapie auszuschlagen, wird ein Unterlassungsverbot (bzw. Behandlungsgebot) nicht in Betracht gezogen. Ferner beruht die geschilderte Kritik auf einer Prognose über das Verhalten von Familienangehörigen und Pflegepersonal, für die es keine sicheren Anhaltspunkte gibt. Während ein gesetzliches Verbot unvermeidlich die Autonomie beschränkt, muss sich der soziale Zwang, der für den Fall der Legalisierung vorhergesagt wird, nicht notwendig einstellen.
Curriculum Vitae von Dr. Frank Dietrich
- Bis 1994: Politikwissenschaft, Philosophie, Recht (Duisburg). Abschluss: Diplom
- 2000: Dimensionen der Verteilungsgerechtigkeit (Duisburg)
- 2008: Philosophische Theorien der Sezession (laufendes Verfahren) (Leipzig)
- Universität Leipzig
- Politische Philosophie
- Moralphilosophie
- Medizinethik
- 07/2001 - 09/2007: Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Praktische Philosophie der Universität Leipzig
- 10/2007 - 03/2008: Fellow am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald
- 04/2008 - 09/2008: Vertretung der Professur für Sozialphilosophie an der Universität Bayreuth
- Dimensionen der Verteilungsgerechtigkeit, Stuttgart 2001, Lucius & Lucius
- Causal Responsibility and Rationing in Medicine, in: Ethical Theory and Moral Practice 2002 (5), 113-131
- Zur Legitimation territorialer Ansprüche, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2006 (54), 577-596