Sektionsredner
Daniel Creutz, M.A. (Freiburg) - Curriculum Vitae
Die Intentionalität der Geschichte. Paul Ricoeurs phänomenologisch-hermeneutische Historik
Abstract
Reflexionen auf die Geschichte als fundamentale Kondition des Menschen, seiner Handlungspraxis und grundlegendes Medium seiner Selbstverständigung sowie auf die Bedingungen und Funktionen von Geschichtswissenschaft nehmen seit der frühen Aufsatzsammlung „Geschichte und Wahrheit“ (1955) einen wichtigen Stellenwert im Denken Paul Ricœurs ein, bevor sie mit der Arbeit an der Trilogie über „Zeit und Erzählung“ Anfang der 1980er Jahre vollends in dessen Zentrum rücken. Diese thematische Kontinuität bis hin zu seinem Alterswerk „Gedächtnis, Geschichte, Vergessen“ (2000), die selbstverständlich auch Umorientierungen und sogar Brüche kennt, sollte es erlauben, sowohl die Frage nach dem systematischen Zusammenhang der unterschiedlichen Thematisierungen von lebensweltlichen und wissenschaftlichen Dimensionen der Geschichte zu stellen als auch anhand dieses thematischen Leitfadens die philosophisch-methodische Positionierung Ricœurs, die er selbst wiederholt als „hermeneutische Variante der Husserlschen Phänomenologie“ bezeichnet hat, in einem umgrenzten Anwendungsfeld zu untersuchen und auf die Probe zu stellen. Seine Herangehensweise zeichnet sich bereits auf den ersten Blick gegenüber der Phänomenologie Husserls oder auch den hermeneutischen Bemühungen Diltheys, Heideggers oder Gadamers dadurch aus, dass sie die Geschichte nicht direkt auf Konstitutionsleistungen des transzendentalen Bewußtseins oder das ontologische Grundexistential der „Geschichtlichkeit“ zurückzuführen sucht, sondern bei der epistemologischen Frage nach den Bedingungen historischer Erkenntnis ansetzt und zu ihrer Beantwortung dezidiert methodische Reflexionen professioneller Historiker heranzieht (besonders der Annales-Bewegung, der Begriffsgeschichte (Koselleck) und der Microstoria): „Es ist stets die Ausübung einer wissenschaftlichen Tätigkeit selbst, die den Philosophen belehrt. Wir müssen deshalb zunächst den Historiker anhören, wenn er über seine Tätigkeit nachdenkt.“ (Geschichte und Wahrheit, S. 41)
Der Vortrag macht es sich zur Aufgabe, in einem ersten Schritt Ricœurs – an der genetischen Phänomenologie Husserls geschulten – Rückfrage nach der spezifisch „historischen Intentionalität“ (Zeit und Erzählung, Bd. 1, S. 269) der Geschichtswissenschaft nachzuzeichnen und den sich innerhalb des Spätwerks zeigenden Paradigmenwechsel zu interpretieren: Untersucht Ricœur nämlich zunächst die narrative Sinnproduktion im Akt der Erzählung als grundlegende Operation des Geschichtsbewusstseins, der die Geschichtswissenschaft auch nach der Konsolidierung wissenschaftlicher Verfahren weiterhin ihre Eigenart zu verdanken hat, wird in den späteren Texten das im Prozeß der Erinnerung greifbare Paradox einer „Anwesenheit eines Abwesenden“ zum Prüfstein aller Vergegenwärtigungsversuche von Geschichte, die mit dem Anspruch auftreten, historische Rekonstruktionen zu liefern, und das Gedächtnis mithin zur „Matrix der Geschichtswissenschaft“ (Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 224). Damit gewinnt Ricœur eine Basis dafür, explizit die unterschiedlichen, jedoch aufeinander bezogenen Wirkungen von wissenschaftlichen und lebensweltlichen Formen von Geschichtsvergegenwärtigung zu untersuchen. Denn die Historie trennt sich in ihrem wissenschaftlichen Stadium auch von ihrer „Matrix“, dem Gedächtnis, allerdings nur, um im Rahmen der sozialen Formung von Erinnerung wieder auf es zurückzuwirken. Neben einer Abkünftigkeit der Repräsentationsproblematik innerhalb der Historie von der Dynamik der Erinnerung ist also eine „Dialektik von Gedächtnis und Geschichte“ anzunehmen, die ihren Ort im kollektiven Gedächtnis einer Erinnerungskultur hat. Das Spätwerk Ricœurs erweist sich mit dieser Einbeziehung aller Stadien des historiographischen Prozesses als eine umfassende Geschichtstheorie, als eine quasi „rückwärts“ erneuerte Historik im Sinne Johann Gustav Droysens, die alle auch schon von Droysen behandelten Strukturmomente historischer Erkenntnis unter Einbeziehung weitgestreuter aktueller Debatten aus anderen Wissenschaften neu durchdenkt.
Gleichzeitig weist die sich mit dem Gedächtnisthema intensivierende Untersuchung der praktischen, lebensweltlichen Funktionen der Historie auch schon auf eine die Epistemologie überschreitende Perspektive hin. Denn Ricœur bleibt, ganz wie auch Droysen vor ihm, nicht bei den epistemologischen Problemen der Repräsentationsversuche von Geschichte stehen, sondern fragt weiter nach ihren anthropologischen Grundlagen sowie ihren ethischen Konsequenzen. In einem zweiten Schritt soll also untersucht werden, wie sich der „epistemologische Umweg“ Ricœurs auf seine Schwerpunktsetzung in der anthropologisch/ontologischen Problematik auswirkt, wobei letztlich das Selbstverständnis der Ricœurschen Philosophie als hermeneutische Phänomenologie auf dem Spiel steht. Hat sein Vorgehen tatsächlich eine Neuorientierung gegenüber den hermeneutischen Versuchen seiner Vorgänger erbracht? Und inwiefern kann man dabei noch von Phänomenologie sprechen?
Curriculum Vitae von Daniel Creutz, M.A.
- Bis 2005: Philosophie, Geschichte (Freiburg, Krakau, Neapel). Abschluss: M.A.
- Historik und Hermeneutik. Kritische Geschichtstheorie nach Droysen und Ricoeur (Freiburg)
- Freiburg
- Geschichtstheorie
- Phänomenologie
- Hermeneutik
- 2000 - 2005: Wissenschaftliche Hilfskraft am SFB 541 "Identitäten und Alteritäten" und seit 2003 am Husserl-Archiv Freiburg
- 2005 - Gegenwart: Stipendiat des Promotionskollegs "Geschichte und Erzählen" der Universität Freiburg
- 2007 - Gegenwart: Kurs- und Akademieleiter für die Deutsche SchülerAkademie/Bonn